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Foto aus dem Projekt 'Lebenskunst'
von Ryszard Majewski
Turhan, 20, Industriemechaniker bei der Bundesbahn

Lebenskunst:
"Sage nur: Mit Durchsetzungsvermögen und Härte erreicht man was. Wenn man beides nicht hat, hat man keine Chance für den Lebenskampf."

Mehmet Ünal, Fotograf, Mainz:
Seit Tagen liegt Majewskis Bild auf dem Tisch.... seit Tagen betrachte ich es zumindest einmal täglich, weil ich die mir gestellte Aufgabe ernst zu nehmen gewohnt bin... Anschließend lese ich den Text, den die abgebildete Person ausgesagt hat... irgendwie kommt er mir bekannt vor: Es hört sich an wie eine Yuppi- Aussage. Übersetzt heißt es: „Wenn du weiterkommen möchtest, mußt du die anderen zerquetschen!“ Obwohl er auf dem Bild eher scheu, ängstlich und unsicher scheint... sind die Hände gebunden, die Körperhaltung ist nicht stabil und er steht irgendwo... es kann in der Berufsschule sein, es kann in einer Werkstatt sein, es kann aber auch an einer Werkbank im Keller oder in der Garage eines Hauses sein... es ist nicht zu definieren. Also beschließe ich, daß er irgend jemanden nachplappert... also: keine eigenständige, persönliche Aussage!
In einem Gewerkschaftshaus sah ich auch andere Bilder von jungen Menschen, von Majewski. Auch zu dieser Zeit machte ich mir Gedanken über diese Bilder. (Weil man sich ja unbedingt einredet, daß man alle visuellen Sachen betrachten muß.) Ehrlich gesagt: Ich finde es nicht so aufregend, wie einige Veranstalter von der Sache überzeugt sind... Seit der Erfindung der Fotografie werden Porträts gemacht. Aber es blieben ganz wenige bis zu unseren Tagen.... Nadar, Sander etc... ob Majewskis Bilder auch so lange am Leben bleiben werden, weiß ich nicht... weil der Geschmack der Zuschauer von Museumsleuten, Bildredakteuren etc. vorgekocht wird...
Majewskis Technik wird von vielen bewundert. Wobei sie vom Ablauf her nichts anders ist als ein Polaroidfoto. (Mit dem kann man ja auch im Großformat fotografieren.) Er arbeitet halt direkt mit Fotopapier und entwickelt sie mit der herkömmlichen Technik. Also technisch nichts Neues ... man kann es auch mit Polaroid machen. Das Ergebnis wird nichts anderes... warum dieser Aufwand?
Es scheint mir, daß Majewskis Bilder ein Teil einer pädagogischen Arbeit sind, und ich werde dadurch bestätigt, daß er sie als Aktion ansetzt. Es kann mit Sicherheit den jugendlichen Teilnehmer/Innen ungeheuren Spaß machen. Keine Frage, aber gerade hier verliert das Foto seine Eigenständigkeit. Es ist ein Teil einer Gruppenarbeit. Ein Hilfsmittel für Gruppendynamik?! Positiv ist, daß er Menschen fotografiert; daß die abgebildete(n) Person(en) so ist (sind), wie sie halt ist (sind): keine Verfremdung, keine fotografische 'Kacke', was sehr oft in den handelsüblichen Magazinen zu sehen ist.

Vahide Özer, Journalistin, Köln:
Turhan ist zwanzig Jahre alt, der Schraubstock, auf dem er seinen Arm angelehnt hat und der Werktisch in seinem flauen 'Atelier' bilden den Rahmen seines Lebenskampfes in den jungen Jahren. Die Arbeitsgeräte und Werktische, die den Rahmen seiner Fotografie stellen, haben eine gesonderte Bedeutung für ihn. Diesen Rahmen und die Bedeutung können wir als 'Lebenskunst' bezeichnen oder benennen.
Die Klarheit seiner Hände und seines Gesichts tritt aus der dunklen Arbeitsbekleidung, die er trägt, besonders hervor. Dadurch gewinnen die Bewegungen seiner Hände, der Ausdruck seines Gesichtes und seiner Augen in diesem engen Raum eine höhere Bedeutung. Die Hände, das Gesicht und die Augen sind die ersten Symbole der Kindheit, die als Erinnerung hervortreten. Seine Augen durchdringen die Arbeitsgeräte und die Wände seines 'Ateliers' und erreichen eine unendliche Weite. Das Geheimnis seiner Blicke zu entschlüsseln, scheint nicht schwer zu sein, aber die Ergebnisse der entschlüsselten Geheimnisse können sich jederzeit verändern.
Der bewußte, scharfe Blick als erstes Geheimnis erzählt uns seinen entschlossenen Kampf für das Leben. Die bewußte Schärfe seines Blicks entdeckt man als Durchsetzungsvermögen und Härte für diesen Kampf oder als eine Bedrohung, die auch ein Erbarmen in sich trägt. Turhan posiert wie ein kleines, verwöhntes Kind. Die Uhr an seinem linken Arm versucht uns, den 20jährigen Kampf, den er manchmal mit Schwierigkeiten, aber auch mit Durchsetzungsvermögen und mit Härte bestritt, zu dokumentieren. Die übereinander gekreuzten Hände sind wie die Waffen der Soldaten, die sich eine Pause gönnen, aufgestellt. Auch wenn die Hände uns ein Bild des Ruhens vermitteln, zeigt die Faust seiner linken Hand die Entschlossenheit zum Kampf, mit der er seine Gegner Knock-Outen will. Und Turhan weiß, daß er diesen Lebenskampf gewinnen wird.

Max, Industriemechaniker bei Daimler-Benz, Stuttgart, 21 Jahre:
Durchsetzungsvermögen und Härte gegen wen? Gegen die Kollegen oder gegen die kleinen und großen Chefs? Oder gehört Dir die Werkstatt, in der Du stehst?
Was willst Du 'erreichen' im 'Lebenskampf'? Jeder gegen jeden? Hat man Dir das hier beigebracht? Turhan, schau Dir Deine Lehrer an! Wem dienen sie - Dir und uns? Oder denen, die den Nutzen daraus ziehen, wenn wir uns untereinander die Köpfe einschlagen? Und sind das nicht die gleichen, die dann rufen: Ausländer raus! Immer mit der Begründung des 'Lebenskampfs' - des deutschen Volkes.
Ausbildung bei der Bundesbahn. Da fällt mir ein: Privatisierung, tausende Entlassungen, noch mehr Schichtarbeit... und oben der Herr Dürr, dem zu seinem hochbezahlten Posten bei der Bahn noch ein Großunternehmen gehört, hier in Stuttgart. Solche wie der machen das Leben hier zu einem Kampf, zu einem Überlebenskampf. Mit Dürr gegen den Rest der Welt oder gegen Dürr mit dem Rest der Welt?
Da brauchen wir die Härte und das Durchsetzungsvermögen, damit wir (über)leben können. Du lehnst am Schraubstock. Ich denke an das Werkstück, das gefeilt und bearbeitet wird. Und ich denke auch an unsere Situation, die einem Schraubstock gleicht, in den wir als Arbeiter - gleich welcher Nationalität - gepreßt werden. Die eine Backe: Mehr arbeiten, um nicht entlassen zu werden; die andere Backe: entlassen werden, weil wir zuviel gearbeitet haben. Im Ergebnis: ausgequetscht und nicht genug zum Leben. Und um das zu 'erreichen', auch noch ducken und sich durchlavieren?
Wir sind beide noch jung. Was ist unsere Zukunft? Nach dem Wolfsgesetz des Kapitalismus: Fressen und gefressen werden! Oder wie es der große türkische Dichter Nazim Hikmet einmal zum Ausdruck gebracht hat: „Leben, frei und einzeln wie ein Baum und brüderlich und gemeinsam wie ein Wald.“