Aus der Welt der Medien - über Pressefreiheit, Repression, Manipulation und andere Tendenzen

Welche Strategie verfolgen Gregor Gysi und DIE LINKE in Sachen NATO?
Zusammenstellung von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann - 23.12.2010

ARD-Sommerinterview vom 18.7.2010 mit Gregor Gysi

Am Sonntag, dem 18. Juli 2010 wird im ARD-Fernsehprogramm 'Das Erste' ein Sommerinterview ausgestrahlt (tagesschau.de/multimedia - ab 13:04 bzw. youtube.com - ab 04:03). Gesprächspartner ist Gregor Gysi, Vorsitzender des Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE. Thema ist u.a. das Verhältnis seiner Partei zur NATO. Der Wortwechsel diesbezüglich:
    Frage: "Aber Ihr Alleinstellungsmerkmal 'Auslandseinsätze - Raus aus der Nato'. Da wären Sie doch auch..."

    Gysi: "Nein, nein, 'Raus aus der Nato' haben wir nicht gesagt. Das ist ja viel klüger formuliert. Bei uns steht drin, daß wir die Auflösung der Nato wollen. Dazu brauchen wir allerdings die Zustimmung der USA, Kanadas und vieler anderer Länder. Das dauert noch..."

    Frage: "Aber die Auflösung der Nato separiert Sie ja noch viel mehr..."

    Gysi (mit erhobenen Zeigefingern gestikulierend und stolz verschmitzt lächelnd): "Ja, aber dann bleiben wir ja drin, solange sie nicht aufgelöst ist..."
Gregor Gysi gibt also offensichtlich zu verstehen, daß die Forderung nach Auflösung der NATO nur ein geschickter Schachzug ist, durch den die Notwendigkeit für ein direktes Agieren in Richtung Austritt aus der NATO umgangen wird.

ARD-Sommerinterview vom 18.7.2010 mit Gregor Gysi über seine Position zur NATO

Am 18. Dezember 2010 veröffentlicht der 'Spiegel' einen Artikel ("Forderung nach Nato-Auflösung - Gysi plauderte über linke Placebo-Politik - Der Politiker der Linken vermutet einen Übersetzungsfehler"), in dem es heißt (spiegel.de):
    "Peinliche WikiLeaks-Enthüllung: Offiziell will die Linke die Nato abschaffen. Doch Fraktionschef Gregor Gysi beruhigte US-Botschafter Philip Murphy, die Forderung sei nur vorgeschoben, um Fundis in der Partei ruhigzustellen. Das zeigt eine Geheimdepesche, die dem SPIEGEL vorliegt... Offizielle Linie der Linken ist bislang die Forderung nach einem Ersatz des Bündnisses durch ein Sicherheitssystem unter Einbeziehung Russlands. Im November vergangenen Jahres [2009] erläuterte Gysi - dem Dokument zufolge "gesellig und in Plauderlaune" - dem US-Botschafter bei einem Besuch, die Forderung der Linken nach Abschaffung der Nato sei in Wirklichkeit ein Weg, den gefährlicheren Ruf nach einem Rückzug Deutschlands aus dem Bündnis zu verhindern. Für eine Auflösung der Nato sei ja die Zustimmung der USA, Frankreichs und Großbritanniens nötig. Und das sei unrealistisch... Gysi selbst kann sich an den genauen Wortlaut des Gesprächs nicht erinnern, vermutet aber Übersetzungsfehler, da 'das Gespräch auf Deutsch geführt wurde'."
Die in dieser 'Enthüllung' enthaltene Darstellung von Gysis Strategie in Sachen NATO deckt sich weitgehend mit der, die er im Rahmen des Interviews öffentlich vorgetragen hat.

Werner Pirker kommentiert am 20.12.2010 in der Tageszeitung 'junge Welt' in einem Artikel mit dem Titel 'Miese Tricks - Gysi vertraute sich US-Botschafter an' wie folgt (jungewelt.de):
    "Schenkt man dem von Wikileaks öffentlich gemachten Bericht des US-Botschafters in Berlin, Philip Murphy, an das State Department Glauben - und warum sollte man das nicht tun? - dann hat der Linksfraktionsvorsitzende Gregor Gysi Washington wissen lassen, daß die antimilitaristische Positionierung seiner Partei nicht allzu ernst zu nehmen ist. Demnach hat er dem US-Botschafter anvertraut, mit welch schmutzigen Tricks die Parteibasis hintergangen wird. Das Parteiestablishment, soll ein um amerikanische Zuneigung bemühter Gregor Gysi seinem Gegenüber anvertraut haben, habe allein deshalb die Forderung nach einer Auflösung der NATO erhoben, um einer Initiative zum Austritt Deutschlands aus der NATO zuvorzukommen. Während erstere Forderung in den Wind gesprochen sei, weil sie nie die Zustimmung der USA, Frankreichs und Großbritanniens finden würde, beruhigte der deutsche Linkspolitiker den amerikanischen Botschafter, beinhalte letztere eine gewisse Brisanz, weil sie an eine konkrete Adresse gerichtet und an konkrete Handlungsschritte gebunden sei. Gregor Gysi wird künftig seine Freude, vor Uncle Sams Abgesandten Bericht erstatten zu dürfen, wohl besser zu beherrschen wissen."
Hartmut Barth-Engelbarth kommentiert den Vorgang auf seiner website am 20.12.2010 um 14:48 Uhr ("Die LINKEn werden immer öfter Opfer gezielter Falschmeldungen") und fragt (barth-engelbart.de):
    "Schlägt das Imperium zurück? Macht es nach Wikipedia jetzt auch WikiLeaks zur Propagandawaffe? ... Hat Genosse Gysi das so dem US-Botschafter erzählt oder handelt es sich hier wieder um gezielte Desinformation ? Vielleicht wusste Assange gar nicht, dass diese Nachricht von westlichen Diensten erfunden und lanciert wurde. Vielleicht hat er sich gedacht, dass diese Nachricht auch irgendwie in die LINKE Landschaft zwischen Liebich und Lötsch passt."
Bereits am 18.12.2010 hatte Günter Schenk bei Gregor Gysi nachgefragt (abgeordnetenwatch.de):
    Sehr geehrter Herr Gysi,

    DER SPIEGEL berichtet aus Dokumenten von WikiLeaks über ihre angeblichen Aussagen gegenüber dem US-Botschafter in Berlin zur Stellung von DIE LINKE zur NATO. Sie sagen, der Bericht des Botschafters sei wohl auf ein Missverstehen des Botschafters Ihres auf deutsch geführten Gesprächs zurückzuführen, es handele sich darum dabei um einen Irrtum des Botschafters.

    Darf ich Sie bitten, mir zu sagen, was Sie - grosso modo - dem Botschafter WIRKLICH gesagt haben? Meine Muttersprache ist deutsch und damit könnten bei mir keine Missverständnisse entstehen. Ich denke, auch für Sie selbst, sowie für die Partei DIE LINKE ist eine Klarstellung des wirklich Gesagten von Vorteil.

    Ich danke Ihnen im Voraus für Ihre jede Unklarheit ausschließende Antwort

    Günter Schenk
Am 21.12.2010 kommt von Gregor Gysi folgende Antwort (abgeordnetenwatch.de):
    Sehr geehrter Herr Schenk,

    meine Aussage bezüglich der Muttersprache und des Missverständnisses bezog sich nicht auf die vom Spiegel zitierte Äußerung, sondern eine frühere. Im Kern war es so, dass der amerikanische Botschafter mich fragte, ob es tatsächlich so sei, dass wir bei einer Regierungsbeteiligung darauf bestünden, dass Deutschland aus der NATO austräte. Ich erklärte ihm, dass es einen solchen Beschluss nicht gäbe, sondern wir eine Ersetzung der NATO durch ein anderes System kollektiver Sicherheit und Zusammenarbeit anstreben. Gleichzeitig wies ich darauf hin, dass dann, wenn es tatsächlich zu Regierungsgesprächen im Jahre 2013 käme, es zunächst nicht nur am Willen der Koalitionspartnern, sondern auch der anderen Länder scheiterte. Außerdem sagte ich, dass sich die Dinge aber entwickeln, und zwar in der Richtung, wie wir sie wünschen.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Gysi
Dank an Thomas Immanuel Steinberg für den Hinweis auf das Sommerinterview (steinbergrecherche.com)