Nato-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien
Gerechtigkeit für Dragoljub Milanovic
Aufruf zur Unterstützung einer Petition - Gesetzwidriges Handeln der NATO darf nicht den Opfern angelastet werden

Für die Kriminellen dieser Welt darf nicht gelten: Nehmt euch die Freiheit zu töten, und eure Verbrechen werden denen zugeschrieben, die die Opfer derselben sind. Weil dem so ist, unterstützt der Bundesverband Arbeiterfotografie die Petition 'Gerechtigkeit für Dragoljub Milanovic' und ruft alle, die das Recht noch nicht abgeschrieben haben, auf, die Petition ebenfalls zu unterstützen.

Petition

In der Nacht vom 22. auf den 23. April 1999, feuerten um 2:06 Uhr NATO-Bomber ein schweres Geschoss auf das in der Aberdareva-Straße Nr. 1 gelegene Gebäude von Radio-Fernsehen Serbiens ab. Durch die Explosion wurden 16 Mitarbeiter getötet und darüber hinaus enorme Schäden verursacht.

Zoran Djikic (44), Justitiar von Radio Televisia Serbia (RTS), Belgrad:

"Wir stehen hier vor dem Gebäude, wo in der Nacht vom 22. auf den 23. April 1999 zwei Raketen eingeschlagen sind - zwei Stunden und sechs Minuten nach Mitternacht. Auch das Studio in der ersten Etage, aus dem in diesem Moment die Nachrichten gesendet wurden, wurde getroffen. Als die Rakete einschlug, arbeiteten hier etwa 120 unserer Kollegen. 16 von ihnen starben und 16 weitere wurden schwer verletzt, 3 davon sehr schwer."

(aus dem Arbeiterfotografie-Projekt 'FRY - gezielt kollateral')

Von Nato-Bomben zerstörtes Gebäude von Radio Televisia Serbia (RTS) - Belgrad 1999

Zoran Djikic (44), Justitiar von Radio Televisia Serbia (RTS), Belgrad:

"Warum RTS getroffen werden sollte? Das ist keine Frage: es sollte unterbunden werden, daß die Wahrheit in der Welt verbreitet wird. RTS war ein psychologisches Ziel. Alle 90 Umsetzer im Land wurden getroffen. Die Berichterstattung über das, was hier vorging, sollte gestoppt werden. Die Menschen in aller Welt sollten davon nichts erfahren."

(aus dem Arbeiterfotografie-Projekt 'FRY - gezielt kollateral')

Von Nato-Bomben zerstörter Fernsehturm, ehemals 203 Meter hoch - Avala, 20 km
südlich von Belgrad, 1999


Obwohl dies eindeutig ein Kriegsverbrechen gegen Zivilisten darstellte und obwohl – die bekannten NATO-Kommandostukturen in Betracht ziehend – klar ist, wer die Befehlshaber sind, und sehr leicht feststellbar ist, wer dieses Verbrechen begangen hat, wurde nicht ein einziger von ihnen für diese monströse Tat zur Verantwortung gezogen. Juristische Verfahren gegen die NATO-Führung, die in der Republik Jugoslawien eingeleitet wurden, sind eingestellt worden, der Internationale Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag sah gar keinen Grund, gegen die Verantwortlichen innerhalb der NATO vorzugehen und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärte sich für nicht zuständig, juristische Schritte gegen diesen Verstoß gegen das Recht der RTS-Mitarbeiter auf Leben einzuleiten.

Die einzige Person, die jemals für dieses Verbrechen verurteilt wurde, ist der damalige Chef derjenigen Institution, die Ziel dieser Luftschläge war, nämlich der Generaldirektor der RTS, Dragoljub Milanovic, der nur durch einen seltsamen Zufall dem Schicksal seiner 16 Mitarbeiter entging. Damit wurde diesem verabscheuungswürdigen Verbrechen ein weiteres hinzugefügt und der Gipfel der Schamlosigkeit erreicht.

2002 wurde Dragoljub Milanovic wegen „des Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit” nach Artikel 194, § 1 und 2 des damals gültigen Strafgesetzes der Republik Serbien zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. So wie dieses Verbrechen im Strafgesetzbuch formuliert war, traf es auf Milanovic gar nicht zu.

Bei dieser schändlichen Verhandlung wurde als Hauptbeweis für seine Schuld der von der Regierung herausgegebene, vermeintlich geheime staatlich-militärische „Befehl 37”, die Mitarbeiter an einen Reserveaustragungsort nach Košutnjak außerhalb von Belgrad zu versetzen, dem sich Milanovic angeblich widersetzte, herangezogen. Während der Verhandlung wurde allerdings dieser Befehl nicht als unterschriebenes, mit Stempel versehenes, registriertes und protokolliertes Dokument vorgelegt, sondern war der Text dieses „Befehls”, ohne Unterschrift und Stempel, wahrscheinlich aus irgendeinem Computer herausgezogen worden, ein Text, von den man nicht weiß, wer ihn, wann und zu welchem Zweck verfasst hatte.

Nach der “Aussage” von Slobodan Perišic, dem damaligen Assistenten des RTS-Generaldirektors, der schon am 10. April 1998 von Milanovic mit allen die Verteidigung und Sicherheit betreffenden Vollmachten, inklusive der Unterschriftsberechtigung von Dokumenten, ausgestattet worden war, wurde das Original dieses famosen Befehls am 5. Oktober 2000 samt seiner Aktentasche verbrannt. Wer auch nur annähernde Kenntnis von Verwaltungsvorgängen hat, weiß, dass kein einziges Dokument, sogar eins von kleinster Bedeutung, nur in einem einzigen Exemplar angefertigt wird, sondern dass eine unterschriebene und gestempelte Kopie des Dokuments bei der ausstellenden Behörde sowie der betroffenen Organisation aufbewahrt werden müssten. Der allerletzte Ort, an dem sich ein solches Dokument und seine Originalkopie eineinhalb Jahre nach seiner Ausstellung hätte befinden dürfen, ist Slobodan Perišic’s Aktentasche.

So verurteilte das Gericht Dragoljub Milanovic zu zehn Jahren Gefängnis aufgrund eines Papiers, das höchst wahrscheinlich aus irgendeinem Computer herausgezogen wurde, das weder unterzeichnet, noch gestempelt, noch archiviert war!

Der so genannte „Befehl 37“ räumt sogar unter Punkt 6 dem Generaldirektor das Recht ein, die Außerkraftsetzung des Befehls zu erlauben bzw. den Befehl nicht auszuführen.

Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass Radio-Fernsehen Serbiens eine Zivileinrichtung ist, und dass das internationale Menschenrecht militärische Angriffe auf derartige Einrichtungen verbietet und als Kriegsverbrechen einstuft. Niemand kann dafür verantwortlich gemacht werden, nicht vorhergesehen zu haben, dass jemand eine illegale Handlung vornimmt, besonders eine so schwerwiegende wie ein Kriegsverbrechen. Sonst überträgt man die Verantwortung für gesetzeswidriges Handeln auf denjenigen, der vorausgesetzt und geglaubt hat, dass das Gesetz befolgt wird, was auf eine Negierung des Gesetzes hinausläuft. In Dragoljub Milanovic’s Fall wurde eine solche Umkehrung vorgenommen, und somit die ureigenste Bedeutung von Gesetz und Justiz unterminiert.

Des weiteren war sowohl vor als auch nach dem Beginn der NATO-Luftangriffe das RTS-Gebäude in Aberdareva Anlaufstelle für technische Hilfsdienste für zahlreiche Journalistenteams aus verschiedenen Ländern, inklusive NATO-Mitgliedstaaten, was bedeutet, dass sie sich dort oft für längere Zeit aufhielten. Es war sogar so, dass der damalige Informationsminister in der Regierung der Republik Serbien, Aleksandar Vucic, vom amerikanischen Sender CNN eingeladen war, in dieser Nacht um 3h (Ankunft wegen der Vorbereitungen etwaa 1/2 Stunde davor) direkt in die berühmte Larry-King-Live–Fernsehshow eingeschaltet zu werden (im Gegensatz zum „Befehl 37“ ist dies durch eindeutiges Beweismaterial in Form eines Telegramms von CNN an Vucic belegt). Die Mutter des Ministers, Angelina Vucic, eine RTS-Journalistin, befand sich zur Zeit des Angriffs auch in dem Gebäude in Aberdareva und überlebte im Gegensatz zu ihren Kollegen nur durch Zufall. Auch Dragoljub Milanovic selbst hielt sich seit Beginn der Bombardierungen täglich in dem Gebäude auf und arbeitete dort jeweils bis spät in die Nacht. In der Nacht des Anschlags verließ Milanovic den Sender etwa 10 Minuten vor dem Angriff. Insofern hat niemand, auch nicht Dragoljub Milanovic, sich vorstellen können, dass die NATO auf so drastische Weise gegen die Menschenrechte verstoßen würde und das RTS-Gebäude, eine eindeutig zivile Einrichtung im Zentrum von Belgrad, in dem sich zur Zeit des Angriffs viele Zivilisten befanden, direkt mit einer hochgradig zerstörerischen Bombe beschießen würde.

Die mit der Anklage gegen Dragoljub Milanovic befassten Gerichte ignorierten alle diese eindeutigen Fakten, ließen ein ungültiges und in Wahrheit nicht existentes Beweismittel zu und wandten fälschlich einen Artikel des Strafgesetzbuches an, der sich auf eine völlig andere Sachlage bezieht, um so zu einer Verurteilung zu kommen.

Besonders alarmierend ist die Tatsache, dass sogar Eltern und Verwandte einiger der getöteten RTS-Mitarbeiter Opfer perfider Manipulationen wurden und in ihrer Trauer und Verzweiflung über den erlittenen Verlust die Behauptung akzeptierten, dass der RTS-Generaldirektor und die Staatsspitze Serbiens schuld am Tod ihrer Angehörigen waren, und nicht diejenigen, die den Beschuss des Gebäudes in Aberdareva befohlen oder durchgeführt hatten.

Dragoljub Milanovic trat am 1. April 2003 seine zehnjährige Gefängnisstrafe an.

Da er die Bedingungen für eine bedingte Gefängnisbefreiung gemäß Artikel 46 des serbischen Strafgesetzbuches erfüllt, hat er bei Gericht seine Begnadigung beantragt. Bis heute hat er darauf keine Antwort erhalten.

Unter Berücksichtigung des vorher Angeführten fordern wir folgendes:
  • WIR FORDERN GERECHTIGKEIT FÜR DRAGOLJUB MILANOVIC! WENN AUCH EINE VERSPÄTETE GERECHTIGKEIT! AN ERSTER STELLE VERLANGEN WIR SEINE SOFORTIGE FREILASSUNG AUS DEM GEFÄNGNIS!

  • WIR FORDERN, DASS FÜR DAS VERBRECHEN, DAS AM 23.APRIL 1999 DURCH DIE BOMBARDIERUNG DES SERBISCHEN RADIO-TELEVISIONSGEBÄUDES IN BELGRAD VERÜBT WURDE, DIE BEFEHLSHABER UND DIE VOLLSTRECKER ZUR VERANTWORUNG GEZOGEN WERDEN. NUR SO KANN AUCH DEN OPFERN DIESES VERBRECHENS GERECHTIGKEIT WIEDERFAHREN!

  • WIR FORDERN, DASS DIE SCHAMLOSE BOTSCHAFT ZURÜCK GENOMMEM WIRD, DIE DURCH DIE ANKLAGE UND VERURTEILUNG VON DRAGOLJUB MILANOVIC AN ALLE KRIMINELLEN IN DER WELT ERGEHT: NEHMT EUCH DIE FREIHEIT ZU TÖTEN, UND EURE VERBRECHEN WERDEN DENEN ZUGESCHRIEBEN, DIE DIE OPFER DERSELBEN SIND!

Bitte eine eMail unter Angabe von Name, Beruf/Funktion und Wohnort an Gordana Milanovic-Kovacevic, die Initiatorin der Petition, senden (gordana.m-k@gurrage.de).



Anhang: In der Nacht des 23. April 1999 um 2:04 Uhr
Rolf Becker über das Buch "Die Geschichte des Dragoljub Milanovic" von Peter Handke - aus Ossietzky, Ausgabe 24/2011

Zur genannten Zeit zerstörten Bomben der NATO den Belgrader Rundfunk- und Fernsehsender RTS (Radio-Televizija Srbije) - punktgenau abgeworfen wie auf Brücken (Varvarin), Wasser- und Elektrizitätswerke, Automobil- und Chemiefabriken (Kragujevac, Novi Sad, Pancevo), Krankenhäuser, Schulen und Hochschulen, Wohnviertel, sogar auf den belebten Marktplatz von Nis - die Liste liesse sich fortsetzen. Sie zerfetzten 16 der zu dieser späten Stunde noch Beschäftigten und verletzten, zum Teil schwer, eine mindestens gleiche Anzahl. Zur Rechenschaft gezogen für diesen »speziellen Krieg - der nicht ›Krieg‹ heissen durfte, obwohl die Sieger sich ›Sieger‹ nannten«, wurden weder Täter noch Staaten der vereinigten Aggressoren, sondern einzig und allein der damalige Direktor des Senders. »Die Geschichte des Dragoljub Milanovic« - Peter Handke hat sie in den ersten Monaten dieses Jahres aufgeschrieben, vor wenigen Wochen wurde sie veröffentlicht.

Nur 32 kleinformatige, dabei großzügig gesetzte Druckseiten. Aber was für eine Geschichte. Vor wenigen Wochen erreichte mich der Anruf serbischer Freunde, Peter Handke zu fragen, ob er bereit sei und Zeit habe, die von mehr als 700 allein in Deutschland unterzeichnete Petition zur Freilassung von Dragoljub Milanovic der Regierung in Belgrad zu übergeben - anders sei die Aufmerksamkeit der Medien dafür kaum zu gewinnen. Seine Antwort liegt jetzt vor, schwarz auf weiß, statt des vermutlich vergeblichen Bittganges zu den neuen, den Siegermächten hörigen Herren; veröffentlicht zunächst in deutscher, vielleicht auch bald in serbischer Sprache, wünschenswert in allen NATO-Sprachen. Anmerkung Handkes zur Petition: »... die aber keiner der ›führenden westlichen Intellektuellen‹ unterschrieben hat - außer Harold Pinter (aus dem Jenseits).«

Nein - kein politisches Pamphlet, keine Kampfschrift, kein moralischer Appell, auch wenn diese Geschichte Peter Handkes seitens einiger auf vermeintlich politische Korrektheit bedachter Wächter in den Feuilleton-Redaktionen als Rückfall des Autors in seine Rolle als »echtester Erbwalter alter jugoslawischer Kultur und Tradition« (Welt online) gewertet wird. Auffallend aber zugleich, dass die Summe der Tatsachen, die in den zehn seit dem Überfall vergangenen Jahren ans Licht gekommen sind, sogar Blätter wie die FAZ zu ein wenig differenzierterer Stellungnahme veranlasst: »Man mag zu Peter Handke stehen, wie man will, speziell aufgrund seiner umstrittenen Haltung zu Serbien: Er ist nun einmal das ›Nein‹, das hinschaut, das sich mit einfachen Wahrheiten nicht zufriedengibt. Das zeichnet ihn aus.« Und über Dragoljub Milanovic sogar: »Er wurde verurteilt und ins Gefängnis gesteckt für eine Tat, die andere begangen haben: nämlich wir. Seit neun Jahren ist er Häftling in einem Gefängnis seines eigenen Landes, wegen der nächtlichen Bombardierung seiner Fernsehanstalt durch die NATO.« Das Eingeständnis wird allerdings wenige Zeilen später relativiert durch Gemeinplätze wie: »Der bedrängte Staat funkt Durchhalteparolen, der andere will Aufgabe: Konflikt programmiert« mit der entsprechenden Folgerung: »Wenn man sich just an der Stelle aufhält, an der das Skalpell angesetzt wird, dann fließt Blut.« 16 Tote, 16 Verletzte, drei davon schwer - so einfach ist das aus der Sicht mancher Redaktionsstuben.

Bei allem, was Peter Handke infrage stellt, wird ihm die Version der Siegermächte und der von ihnen geschaffenen Einrichtungen wie dem Haager Tribunal entgegengehalten. So stellt sich für das österreichische Fernsehen »die Frage, ob das serbische Fernsehen tatsächlich nur Kriegspropaganda betrieben hat oder, wie Handke meint - und er bezieht sich auf seine subjektive Wahrnehmung der gesendeten Bilder 1999 - eben nicht. Denn dass den Bildern von den angerichteten Schäden und den Opfern des NATO-Einsatzes Bilder mit blühenden Landschaften eines unzerstörten Landes entgegengestellt wurden, das will der Erzähler nicht als Propaganda sehen« (ORF). Fazit: Bestätigung der NATO-Version - der Sender musste ausgeschaltet werden, punktgenau. Handkes Zweifel, Einwände und Belege werden wie bei seinem in diesem Sommer bei den Salzburger Festspielen uraufgeführtem Stück »Immer noch Sturm« vom ORF »seiner träumerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Kärntner-slowenischen Familiengeschichte« zugeordnet. Anders die Neue Zürcher Zeitung: »Es stimmt schon: Die Sieger dieses Krieges maßen sich mit andern Ellen als die Verlierer, und in Bezug auf die Bombardierung hängt über dem Haager Kriegsverbrechertribunal der Verdacht der Siegerjustiz.« Nachsatz allerdings, um die NATO-Mächte, darunter schließlich auch die benachbarte BRD, nicht als Aggressor zu bestätigen: »Aber exkulpiert dies automatisch die Verlierer? ... Handkes Wut ist dort produktiv, wo sie westliche Heuchelei demaskiert. Doch sie vernebelt ihm den Blick, wenn es um die serbischen Zustände jener Jahre geht.«

Wie umgehen mit einem Autor, der sich von seinem Bemühen um geschichtliche Wahrheit nicht abbringen lässt und sich samt seinen Lesern dem Mainstream verweigert? Die Autorin der bereits zitierten Online-Ausgabe des Springer-Verlages scheint zu glauben, Peter Handke (ausgerechnet ihn!) auch ästhetisch abwerten zu können: »Halb Literatur, halb literarisch entgleisende Realfiktion. Und stellenweise auch Kitsch, wenn er Milanovic beschreibt: ›Die Hände des seit fast zehn Jahren Eingesperrten lagen während des ganzen Gesprächs bewegungslos auf dem Besucherzellentisch, eine still über der anderen, bis am Ende der Stunden für einen Augenblick sich noch eine dritte Hand darüberlegte.‹« Als wäre der Eindruck, den Handke beschreibt, falsch, wenn Milanovic im Laufe des mehrstündigen Gespräches tatsächlich mal seine Hände bewegt hätte; falsch wie all das, was er zur Zerschlagung Jugoslawiens und zum Bombenterror gegen die serbische Bevölkerung geäußert hat: »Handke taugt nicht zum politischen Agitator, zu sehr lässt er Wut, Trauer, Trotz und Sarkasmus ineinander fließen. Wie bei jedem, der aus der Emotion heraus Politik betreibt, entstehen Fehler, Ungenauigkeiten. Handke interessiert sich nicht für das präzise Geschehen. Er fügt an: ›wenn ich mich recht erinnere‹ und: ›oder so ähnlich‹. Die literarische Form ermöglicht die Rettung ins Ungefähre.« Bild lesen statt Handke, denn: »Als literarisches Werk bietet das Buch, bis auf ein paar Seiten, wenig Genuss«

Ein vergleichbar erhellender Rundumschlag findet sich im Berliner Tagesspiegel: »Liebe Literaturpreisjurys, vergesst Peter Handke! Es bringt euch nur Ärger und Peinlichkeiten, wenn ihr versucht, den österreichischen Autor auszuzeichnen. Eigentlich ist das ja seit dem Eklat um den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf vor fünf Jahren klar. Damals sperrten sich die Stadtoberen gegen die Entscheidung der unabhängigen Jury. Jetzt gibt es eine verkleinerte Neuauflage dieser Posse. Es ist ein Skandälchen mit Ansage: Peter Handke bekommt den Candide-Preis, aber nicht das Preisgeld von 15 000 Euro. Denn dem Sponsor - ein Buchbindemaschinenhersteller - passt die Wahl der fünfköpfigen Jury nicht. Er weigert sich, die Summe zur Verfügung zu stellen ... Grund für den Konflikt ist wie schon 2006 Handkes Engagement für Serbien. Sein Werk hat der 1942 in Kärnten geborene Schriftsteller dadurch tief beschädigt.«

»Es ist hier eine Geschichte zu erzählen« - so beginnt Peter Handke, und er löst ein, was er wie einen Auftrag ankündigt, nicht mehr und nicht weniger. Was den Zorn der Herren des Mainstreams auslöst, ist der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte, ist das Fragen und Hinterfragen, auch Provozieren ihres Autors, der seine Wahrnehmungen und Erfahrungen gegen das von Politik und Medien verbreitete Bild verteidigt, gegen »die von vornherein festgestandenhabenden Sieger, beziehungsweise Gewinner ... Eine Geschichte demnach, erzählt allein den toten Fischen in der toten Donau, den leeren Maiskolben auf den leeren Feldern der Vojvodina, einem vertrockneten Blumenstrauss in einer verrosteten Konservendose auf dem Friedhof von, sagen wir, Porodin, und zuletzt dem Schädel, oder was von ihm übrig ist, im Grab von Ivo Andric.«

Resignation? Keineswegs, sonst würde Peter Handke die Geschichte nicht publizieren. Bitter gelegentlich, zynisch sogar angesichts der Kräfteverhältnisse, die es trotzdem zu verändern gilt. Provokation zum Nachdenken, Überprüfen und entsprechenden Eingreifen, zu dem er, der Einzelne, schreibend seinen Beitrag leistet: »...was für eine Art von Krieg. Devise: Ein Hirngespinst, wenn es amtlich wird und Arm der Macht, findet immer einen Gesetzesparagraphen, welcher es auf die Sprünge bringt - es realisiert; mit anderen Worten: in den Schein eines Rechts setzt.«

Über diesen Krieg »gegen den Staat, welcher damals noch ›Bundesrepublik Jugoslawien‹ hieß« hat er in zahlreichen Romanen, Theaterstücken, Berichten geschrieben. Hier beschränkt er sich - scheinbar - auf das Beispiel eines Senders: »Dem Tony und dem Bill genügte es, dass das serbische Fernsehen dokumentarische Bilder, unterlegt mit einem Berichtston, von den ›Luftschlägen‹ sendete, samt all den zivilen Kollateralopfern - es gab fast nur solche, zu guter Letzt an die 2.000 (zweitausend) -, und das völkerrechtlich geschützte Zivilobjekt RTS gab ein berechtigtes ›Ziel‹ ab; es brauchte nicht einmal der übliche Kollateralirrtum fingiert zu werden.« Den im Mainstream dahintreibenden Medien stellt er nicht mehr - und nicht weniger! - als seine eigene Wahrnehmung entgegen: Ich bezeuge, dass nicht ein einziges der damals gezeigten Bilder und/oder Tonbilder, auf eine beinah unfassbare Weise bei allen den zentralen Zerstörungen und tangentialen Menschenzerfetzungen, etwas wie Tendenz oder Propaganda, geschweige denn Hass oder Rachsucht ausstrahlte.«

Handke wird zum Zeugen für Dragoljub Milanovic, »Häftling in einem Gefängnis seines eigenen Landes«, der »nicht imstande gewesen war, sich ›vorzustellen, dass in unserem Land absichtlich ein ziviles Ziel bombardiert würde ... am Eingang des dritten Jahrtausends‹,« und noch weniger, »dass danach die Repression solange weitergehen würde, ›bis wir zugeben, die Schuld an dem Angriff selber zu tragen‹.« Wie der ehemalige Bürgermeister von Varvarin, der vor Gericht gestellt werden soll, »weil er an dem bewussten Himmelfahrtstag, als zwei Bomben auf die kleine Brücke über die Morava - dort im Süden noch ein Flüsschen - abgefeuert worden sind, das Sperren der Brücke verabsäumt hatte; denn er hätte wissen müssen, dass von März bis Juni 1999 ausnahmslos jede, selbst die unbedeutendste öffentliche Einrichtung als Kriegsziel in Frage kam; dass durch die Bomben auf die Brücke von Varvarin die eigene Tochter des Bürgermeisters, des predsednik opštine, getötet worden ist, tut der Strafbarkeit keinen Abbruch.«

Mit Georg Büchner'schen Purzelbäumen hebt Handke gegen Ende seiner Geschichte Widersprüche, die unlösbar scheinen, auf. Wie jener die fürstlichen Popanze der Reiche von Pippi und Popo lässt er die Tonys und Bills der Imperien unserer Tage schlichtweg ungeschehen machen, was sie gestern angerichtet haben.

Handke lesen. Und sei es nur diese kleine Geschichte, in einer künftigen Gesellschaft der Weltliteratur zuzuordnen: »So höre, Schuhband, zerschlissenes. Hör zu, verrosteter Nussknacker. Hör zu, krumme Nähnadel. Höre, verstaubtes Stofftier. Höre, mein abgewetzter Fußabstreifer. Höre zu, Spiegelbild.«

Peter Handke: »Die Geschichte des Dragoljub Milanovic«, Jung und Jung Verlag, 37 Seiten, 9 Euro

(Quelle: sopos.org)